Transkript Folge 5
O-Ton Matthias Laarmann: Ok ich gebe euch für die erste Zeile 30 Sekunden. Bekommt ihr den Irrläufer heraus? Ab jetzt.
Montagvormittag. Vierte Stunde am Immanuel-Kant-Gymnasium in Dortmund. In der siebten Jahrgangsstufe läuft der Lateinunterricht. Lehrer Matthias Laarmann startet gerade eine der Lieblingsübungen der Schüler.
O-Ton Matthias Laarmann: Irrläufer gesucht! Also es werden Worte in einer Zeile gesetzt, die sehr ähnlich aussehen, wo man das Wort heraussuchen muss, das nicht in die Reihe passt und dabei muss man sowohl Formen gut beherrschen, als auch Inhalte.
Aufmerksam gucken die Schüler auf die Wortreihen und versuchen herauszufinden, welches Wort jeweils nicht passt und tauschen sich dabei mit ihren Sitznachbarn aus.
O-Ton Schulklasse: So Marva, möchtest du? // Alle Wörter sind Nomen, außer „parvum“ ist ein Adjektiv. // Ja, Volltreffer und versenkt Marva. Das war auf Anhieb die richtige Antwort. Gratulation, gut durchgecheckt.
Auch die nächsten Begriffe identifizieren die Schüler schnell richtig. Nicht nur deswegen setzt Matthias Laarman sie gerne in seinem Unterricht ein.
O-Ton Matthias Laarmann: Die Übung ist deswegen auch sehr schön, weil die Schüler sich erst mal im Partnergespräch untereinander austauschen und sich absichern können. Und sie können sich auch in einer guten Zeit auf ihre eigene Antwort vorbereiten, das gibt auch Sicherheit bei den Schülern. Deswegen ist die Beteiligung auch recht hoch. Ich habe nicht nur die Leistungsspitzen, sondern die ganze Klasse macht die Übungen gerne mit.
Überhaupt wirkt die Klasse hochmotiviert. Latein ist am Immanuel-Kant-Gymnasium, wie an den meisten deutschen Schulen, an denen Latein gelehrt wird, Wahlfach. Die Gründe der Schüler das Fach zu wählen, sind vielfältig.
O-Ton Schulklasse: Ich habe mich für Latein entschieden, weil ich im Vorhinein erfahren habe, dass Latein die Grundlage für die meisten Sprachen ist und das hat man jetzt auch im Unterricht gemerkt. // Man lernt auch sehr viel für die deutsche Grammatik, weil man dann die Grammatik viel besser versteht. Man hat dann einen Vorsprung im Latein- und Deutschunterricht und in allen anderen Fächern auch ein bisschen. // Ich habe mich dafür entschieden, weil ich mir gedacht habe, dass es vielleicht später im weiteren Leben auch mehr Berufsmöglichkeiten gibt. Wenn man zum Beispiel Arzt wird, ist es ja einfacher mit Latein-Begriffen umzugehen, wenn man das in der Schule schon gemacht hat, als später im Studium. // Mir macht es Spaß, dass es nicht so viele Ausnahmen gibt, sondern dass es Regeln gibt und wenn man die verstanden hat, ist es relativ leicht.
Spaß am Unterricht, ein fokussierter Blick darauf, Schüler durch eine interessante Unterrichtsgestaltung zum Mitmachen zu motivieren – das sind im Lateinunterricht Entwicklungen jüngeren Datums. Wenn man auf den Beginn des Lateinlernens, nämlich Schulunterricht im alten Rom schaut, spielten die Interessen und Neigungen der Schüler nur eine geringe Rolle, erklärt Karl Wilhelm Weeber. Der Altphilologe und Autor hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher über das Leben im alten Rom verfasst, unter anderem auch über die Schule.
O-Ton Karl Wilhelm Weeber: Die römische Schule war ganz stark lehrerzentriert. Es ging um „precepta“, d.h. Vorschriften. Der Lehrer sagte sozusagen alles vor, die Schüler sprachen vieles im Chor nach. Und die Fragetechnik war das klassische Ping Pong: Frage - Antwort, Frage - Antwort. Was viel zu kurz kam, aus unserer heutigen Sicht, war das Gespräch – auch das Gespräch der Schüler untereinander, die Diskussion. Und das ist nicht sehr motivationsfördernd, das weiß man heute.
Deswegen bekamen die Lehrer auch regelmäßig Disziplinprobleme, so Weeber, und waren Züchtigungen an der Tagesordnung. Geholfen hätten diese aber wenig. Diese und auch andere Seiten der römischen Schule erweckt die Jugendbuchreihe des amerikanischen Autors Henry Winterfeld um den Senatorensohn Caius zum Leben.
Lesung „Caius, der Lausbub aus dem alten Rom“: An der Wand hing an einem großen Nagel eine Landkarte des Römischen Reiches. An den Nagel hatte Rufus eine seiner Schreibtafeln gehängt und in das Wachs hatte er mit großen krakeligen Buchstaben gekritzelt: Caius ist ein Dummkopf. Der Heiterkeitserfolg war groß. Rufus strahlte und verbeugte sich wie ein großer Schauspieler auf seiner Bühne. Auch Xantippus, der in einem Buch gelesen hatte, sah erstaunt auf. „Ruhe“, donnerte er und sofort wurde es still. Rufus duckte sich erschrocken und die anderen beugten sich wieder über ihre Arbeiten. Sie hatten vor einer Weile laut im Chor griechische Vokabeln aufsagen müssen: Caius spricht Griechisch und übersetzt auf „der Bauer“, „der Wolf“, „der Baum“, „das Pferd“. Und dann hatte Xantippus ihnen befohlen, sie aus dem Gedächtnis aufzuschreiben.
Auch jenseits der antiquierten Unterrichtsmethoden hatte Schule im alten Rom mit heutigem Unterricht nur wenig gemein, weiß Karl Wilhelm Weeber. Es gab keine Fächer im heutigen Sinne, keine eigene Ausbildung für die Lehrer, keine Lehrpläne, keine Schulgebäude. Unterricht fand deswegen häufig draußen auf dem Markt statt. Und es gab auch keine Schulpflicht. Deswegen ging nach modernen Schätzungen auch nur ein kleiner Teil der Kinder überhaupt in die Schule.
O-Ton Karl Wilhelm Weeber: Und die bewegen sich zwischen 10 und 20 Prozent der Schüler in Rom, die in Rom, also in der Hauptstadt, eine Schule besucht haben. Man kann sicher auch sagen, dass deutlich weniger Mädchen in diesen Klassen gesessen haben als Jungs. Und es haben auch ab und zu Sklaven teilgenommen am Unterricht. Wenn die Lesen, Schreiben, Rechnen können mussten, haben Herren sie in den Unterricht geschickt. Aber im Prinzip ist die Schule ein Oberschichtphänomen gewesen.
Und nur ganz wenige Schüler haben im alten Rom die höhere Schule beim Grammaticus und dann beim Rhetorik-Trainer besucht. Diese antike Schultradition ging im Westen des römischen Reiches in den Wirren der Völkerwanderungszeit weitgehend unter und wurde durch die Bildungsreformen der Karolinger, vor allem unter Karl den Großen ab dem 8. Jahrhundert wiederbelebt, erklärt Sita Steckel, Professorin für Hoch- und Spätmittelalter an der Uni Münster. Auch damals kam allerdings nur ein kleiner Teil der Kinder in den Genuss von Schulbildung.
O-Ton Sita Steckel: Und dann hat man vor allem die Eliten, die zum Beispiel die Verwaltung des Reiches managen und im Wesentlichen den Klerus und übrigens auch die Frauen der Elite und die Nonnen, also die geistlichen Frauen, die brauchten alle eine lateinische Bildungstradition. Entweder tatsächlich für praktische Zwecke, etwa die für Verwaltung, das ist im 8. Jahrhundert stark schriftlich, aber auch um die Bibel verstehen zu können, also auch um das Recht auslegen zu können.
Die höhere Ausbildung fand dabei in kirchlichen Zentren zum Beispiel in Klöstern statt. Später bildeten sich für Spezialfächer, die stark auf einer antiken Tradition fußten, die ersten Universitäten. Das einfache Lesen und Schreiben lernen lief eher informell ab.
O-Ton Sita Steckel: Für eine Schule braucht es erst mal nur eine lehrende Person, Schüler und ein Buch. Und man kann tatsächlich davon ausgehen, dass sehr viel Unterricht sehr informell abgelaufen ist. So hören wir schon für das Frühmittelalter von Pfarrern, die Kindern im Dorf Unterricht geben, mutmaßlich nach dem Gottesdienst an einem Sonntag.
Unterrichtssprache im Mittelalter war Latein und zwar ein Latein, dass sich unter Karl dem Großen wieder stark an antiken Vorbildern orientierte, während aus der lateinischen Volkssprache allmählich die romanischen Sprachen entstanden. Die Hochsprache Latein wurde somit im Frühmittelalter zur Sprache der Schriftlichkeit und Eliten und war außerdem für die Verwaltung und das Kirchenleben unerlässlich. Gelehrt wurden die sogenannten sieben freien Künste, auch sie ein Erbe der Antike, also Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.
O-Ton Sita Steckel: In der Praxis war es aber wohl so, dass viele Kinder erst mal praktische Dinge gelernt haben, zum Beispiel Psalmen schreiben und dann gleich singen. Denn gerade kleinere Jungen wurden sehr stark herangezogen, um dann in der Kirche zu singen.
Gelernt wurde damals anhand antiker Texte. Auch im Mittelalter beschäftigten Schüler sich schon mit Cicero, so Sita Steckel.
O-Ton Sita Steckel: Mittelalterliche Schüler haben zwar einen autoritativen Text gelernt, auch einen alten Text aus der Antike, aber die haben dann unmittelbar Übungen dazu gemacht. Wir haben zum Beispiel lateinische Briefe, die offensichtlich Übungen aus der Rhetorik sind. Man lernte zum Beispiel in schönen Wörtern jemanden um etwas zu bitten oder feierlich zu begrüßen.
Im Hochmittelalter ab der Mitte des 14. Jahrhunderts sieht Sita Steckel eine starke Veränderung der Rolle des Lateinischen. Die Bibel wurde damals in Volkssprachen übersetzt, es entstanden auch mehr andere Texte in den entstehenden Nationalsprachen. Latein habe damals seinen Status als Sprache der Eliten allmählich verloren.
O-Ton Sita Steckel: Im 15. Jahrhundert ist eine Explosion der Lateinschriftlichkeit und der Laienkultur. Wo noch mal unglaublich viele höhere Schulen gegründet werden, neue Lateinschulen in den Städten entstehen. Also da gibt es noch mal einen richtigen Schub.
Trotzdem blieb Latein bis in die frühe Neuzeit die Unterrichtssprache an den höheren Schulen und Universitäten, war Latein weiter Wissenschaftssprache und gemeinsame Lingua Franca Europas, sagt Stefan Kipf, Professor für Didaktik der Alten Sprachen an der Humboldtuniversität in Berlin.
O-Ton Stefan Kipf: Da wurden die Schüler auch dazu angehalten in den Pausen Latein zu sprechen, das wissen wir aus den Schulordnungen. Zu Zeiten Melanchthons oder Erasmus war das Ziel des Lateinunterrichts, Latein wirklich aktiv schreiben und sprechen zu können. Die höchste Leistung für einen Schüler bestand darin, poetische Texte selber zu verfassen.
Erstmals stärker unter Rechtfertigungsdruck geriet der Lateinunterricht ab dem 18. Jahrhundert, als das Lateinische mehr und mehr seine kommunikative Funktion verliert, sagt Anna Kranzdorf, die in ihrer Dissertation die Debatten um den Lateinunterricht im 20. Jahrhundert nachzeichnet.
O-Ton Anna Kranzdorf: Da ja in der Tat einem die direkte Nützlichkeit nicht direkt ins Auge springt, im Gegensatz zu Mathematik oder ordentlich Rechtschreiben, da ist die Nützlichkeit ja direkt gegeben. Beim Latein- und Griechischunterricht ist das eben nicht der Fall. Und das ist ganz spannend, das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der beiden Fächer, dass sie sich immer wieder legitimieren mussten.
Und das gelang den altsprachlichen Fächern durchaus mit wechselnden Argumenten immer wieder. Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg etwa gab es eine Diskussion um den Lateinunterricht, weil Teile der Gesellschaft das Deutsche auch in der Schulbildung stärker betonen wollten.
O-Ton Anna Kranzdorf: Dann hat man dieses Argument ganz stark: Naja, wenn man Latein lernt, dann schult das auch die Muttersprache und deswegen ist jede Lateinstunde auch immer eine Deutschstunde.
Während des Nationalsozialismus hingegen wurde betont, der Lateinunterricht bedeute Drill, das sei anstrengend und forme den jungen Deutschen. In der jungen Bundesrepublik folgte dann hingegen die Rückkehr zum humboldtschen Bildungsideal. Klar war in dieser ganzen Zeit, dass Lateinunterricht Elitenbildung ist.
O-Ton Anna Kranzdorf: Das ist schwierig, das kann nicht jeder. Da trennt sich die Spreu vom Weizen und deswegen ist das auch so ein tolles Fach für die Schule, weil da eben die künftigen Führer der Nation ausgebildet werden.
Zur damaligen Zeit machte auch nur ein ganz kleiner Teil der Schüler überhaupt Abitur und ging auf die Universitäten. Das wurde mit der beginnenden Bildungsexpansion in den sechziger und siebziger Jahren zu einem Problem, so Stefan Kipf.
O-Ton Stefan Kipf: Da war natürlich ein Gymnasium, das drei Prozent der Schüler zum Abitur führte und wo Latein für viele Schüler eine Pflichtsprache war, nicht mehr das Modell mit dem man arbeiten wollte. So waren wir Ende der sechziger Jahre soweit, dass im Rahmen der sogenannten Curriculum-Reform eigentlich das Fach zur Disposition stand.
Um diese Herausforderung zu bewältigen und in der Konkurrenzsituation mit anderen Fächern bestehen zu können, musste sich das Schulfach Latein neu erfinden, sagt Anna Kranzdorf.
O-Ton Anna Kranzdorf: Dann kann man eben kein Unterricht mehr machen, der mit der Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler nichts zu tun hat. Und dann muss man eben auch anfangen, den moderner, aufgeschlossener und kindgerechter zu gestalten. Und dann muss man eben auch aufhören, dieses Fach so zu unterrichten, dass es fast keiner schafft bzw. dass man in dem Fach fast immer nur schlechte Noten abholt.
Das gelang in einer grundlegenden Reform des Faches, die manche eine „kopernikanische Wende“ nannten. Auch die Lehrbücher und die Didaktik des Faches wurden grundlegend überarbeitet, erklärt Stefan Kipf.
O-Ton Stefan Kipf: Heute werden die sprachlichen Phänomene an inhaltlich sinnvollen Texten mit den Schülern von Anfang an erarbeitet. Wenn man sich die Lehrbücher des 19. Jahrhunderts anschaut, dann waren dort ungezählte, unzusammenhängende Einzelsätze, die man übersetzte. Heute geht man viel kontextorientierter vor, man geht natürlich auch viel kindorientierter vor mit den Themen, die man wählt.
Damit gelang es auch die Schülerzahlen zu stabilisieren und dem Fach neue Aufgaben zu übertragen.
O-Ton Stefan Kipf: Das heißt, dass es ein Fach ist, das vielfältige Ziele verfolgt, im Bereich von Sprache, im Bereich von Literatur und im Bereich von Gesellschaft, Staat und Geschichte und in dem Bereich dessen, was man humanistische Bildung und Grundfragen menschlicher Existenz nennt.
Gerade diesen Aspekt, einen Zugang zu den antiken Grundlagen unserer Kultur zu schaffen, empfindet Stefan Kipf als ganz wichtig.
O-Ton Stefan Kipf: Das Brandenburger Tor ist ein mythologisches Lexikon. Sie finden in den Durchgängen den kompletten Herakles-Mythos. Und den lernen sie im Lateinunterricht kennen. Das heißt, wenn sie den nicht kennenlernen, dann ist für sie das Brandenburger Tor ein Gebäude, bei dem es Silvester immer eine große Party gibt oder das auf Geldstücken zu sehen ist, aber eben auch nicht mehr.
Außerdem sei dem ehemaligen Elitenfach mittlerweile eine integrative Rolle in der Schule zugewachsen.
O-Ton Stefan Kipf: Da beschäftige ich mich ja seit Jahren mit. Gerade für Schülerinnen und Schüler, die einen nichtdeutschen Sprachhintergrund haben, da konnten wir ja zeigen, dass Latein da durchaus sehr positive Effekte haben kann, was die Beherrschung des Deutschen angeht.
Diese ganz praktische Seite des Lateinunterrichts unterstreicht auch Lateinlehrer Matthias Laarman am Immanuel-Kant-Gymnasium in Dortmund.
O-Ton Matthias Laarmann: Wenn man so eine Mehrstufenrakete bauen will mit Sprachen, dann fängt man hier natürlich mit Englisch an, aber die Entscheidung für Latein soll keine Entscheidung gegen andere Sprachen sein. Im Gegenteil, man sieht gewissermaßen in den Maschinenraum der Sprachen Europas hinein, wie Sprache funktioniert und kann das nachher sehr gut umsetzen, wenn wir Spanisch oder Französisch lernen wollen.
Außerdem fördere Latein beim Lernen auf Genauigkeit, Gründlichkeit und Vollständigkeit zu achten. Dieses seien Lerntugenden, die es auch an der Hochschule brauche. Im Lateinunterricht in der siebten Klasse stehen mittlerweile Übersetzungsübungen an:
O-Ton Schule: Wenn der Satz jetzt für euch zu lang ist, dann machen wir das mit einer Pendelmethode: Wir fangen an mit dem ersten Wort des Satzes und das heißt „Ego“. Alexander. // Ich // So „Ich“. Dann pendeln wir zum Ende des Satzes. „Non audivi“. Erik. // Höre nicht. // Schau noch mal auf „audivi“, auf die Endung. // Ich habe nicht gehört. // Ich habe nicht gehört und zwar „de anseribus“. Milena // Über die Gänse. // Wer kann dann noch mal den gesamten Satz übersetzen. Amina // „Ich habe nichts über die Gänse gehört.“